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Juni 2012

Der Satz, mit dem in diesem Sommer alles beginnt, wird mir mitten in unserem Streit einfach so hingeschleudert:

„Mum, chill mal deine Aura.“


Der Zorn vergeht mir augenblicklich; dafür kommt das Lachen. Etwas Besseres kann mein Sohn von mir nicht verlangen, als entspannt das Ding Pubertät zu erwarten – mit offenen Armen.


(Wo nur habe ich das Buch über die Pubertät nur hin verräumt? Ach ja: vor einem Jahr ausgelesen, weise gelächelt und einer Freundin geschickt. Ein grober Fehler...)

Juli 2012

Jetzt bin ich aber doch noch froh. Mein Sohn freut sich tatsächlich auf den gemeinsamen Urlaub.

„Schon okay, Mum.“ Und zieht die Schlinge sofort ein wenig fester: „Ist ja vielleicht unsere letzte gemeinsame Reise.“

Quatsch, du bist erst 12. Ha ha!

Schon 12!, jault es aus dem Mutterschiff. Hast doch gesehen, wie flugs er laufen, sprechen, denken lernte.

Sich abgrenzen.

Gewachsen ist. Im Flur stehen jetzt Turnschuhe, die nicht nur größer, sondern auch teurer als meine sind. Autsch.

August 2012

Im Meer, dessen Wasser getreu den Himmel über der Insel spiegelt, ist er doch noch das Kind. Tauchen, juchzen, mit Wasser spritzen, über Wellen springen.

Nie mehr an meiner Hand. Das Mutterschiff schlingert leicht.

Ich darf meinem glücklichen Sohn zusehen, wie er im T-Shirt nachts durch den Pool taucht. „Hey Mum, das ist erste Mal!“

All diese neuen ersten Male wird er ab jetzt für sich selbst zählen. Im Mutterschiff müssen wohl ein paar Geräte neu justiert werden.

 

September 2012

Alles, beinahe alles an mir scheint neuerdings falsch zu sein.

Mein Alter, meine Kleidung, natürlich meine Musik, meine Freunde, sogar mein Auto. Muss ich mich jetzt neu erfinden?

Leichter Wind geht durch die Takelage.

Ich sage: "Schade, dass ich im letzten Jahr unseren eckigen Volvo verschrotten musste." Mein Sohn antwortet: „Eh Mum, der war schon echt peinlich.“ Und wir denken beide: 

DU hast echt keine Ahnung von schönen Autos.

November 2012

Es riecht fremd, wenn ich die Wohnung betrete. Und alle Bemerkungen dazu perlen am öligen Film der Ignoranz meines Sohnes ab. Die Veränderung hat nicht nur Worte und Launen, sie hat auch einen Duft.

Zwei Tage später zeigt mir mein Sohn stolz ein Spray, das sein bester Freund ihm geschenkt hat. Auf der Dose prangt ein weißes Bunny mit Fliege.

Jetzt wird die Sache doch noch schlimm.

Mein Sohn sprüht fleißig. In haarlose Achseln und auf Pullover. Es riecht nach morgendlich überfüllter U-Bahn; nach einem Tag nasser Novemberhunde.

Dezember 2012

„Ich wünsche mir einfach nur Geld. Dann kann ich mir selbst alles kaufen.“ So soll Weihnachten in diesem Jahr aussehen? Ich hadere und gebe zu bedenken, dass unter dem Weihnachtsbaum rein gar nichts zum Auspacken liegen würde. "Wie jetzt?" fragt er. "Nix?"

Dann sieht er die bekannten Bilder der letzten Jahre. Stimmt - da war doch noch etwas! Baum, Lichter, Festessen, Wünsche, Spiele, Überraschungen! Das neue Bild legt sich nicht wie eine Folie über die vertrauten Bilder, durch die er blicken kann.

„Epic fail!"

Mein Sohn aktiviert im Hirn die Region für Tradiertes und krakelt einen Wunschzettel. Wie vermutet kaum lesbar. Zum ersten Mal fehlt das Wort LEGO. Ein Abschied von dem Bild, wie das freudige Kind winzige Einzelteile zu einem Ganzen fügte.

Was geht, was bleibt?

Tage später hakt mein Sohn nach: „Mum, schon was für Weihnachten gekauft?“ Meine ewig gleich lautende Antwort kennt er: „Ich? Das macht ja wohl der Weihnachtsmann.“ Mein Sohn lächelt nachsichtig. Und ich wiederhole gebetsmühlenartig, getreu dem Satz einer klugen Freundin: „Manche Dinge sind einfach zu schön, um nicht daran zu glauben.“

Da umarmt mich mein Sohn.

Januar 2013

Warum sieht mein Sohn so komisch aus? Ah, er ist 13 geworden. Aber da ist noch etwas Anderes.

Er steht mit hängenden Armen am frühzeitigen Montagstisch und blickt befremdet. Ich schaue auch. Und sehe: die Ärmel seines Pullovers sind vom gestrigen Abend bis zum heutigen Morgen um mindestens zehn Zentimeter zu kurz geworden.

Wir machen an der Küchewand den nächsten Strich an der Messlatte.

So schnell wachsen Flügel, denke ich.

 

Februar 2013

Letzte Woche fand mein Sohn die extrem bunte Kapuzenjacke noch „voll schön“; heute steht er kopfschüttelnd vor der Kleiderkommode. Klaubt sich später heimlich eine noch feuchte, einfarbige Jacke vom Wäscheständer und stürmt los. Ich sehe weg und lächle. Die Absolutheit, der Glauben, die Schroffheit, die Hitzigkeit werden die Jacke schon trocknen.

Das Zeugnis ist eine halbe Katastrophe und über dem Mutterschiff braut sich ein Unwetter zusammen. Zerknirscht und ungefragt macht mein Sohn Vorschläge. Die Worte „mehr“ und „weniger“ gebraucht er tatsächlich adäquat zu den Themen Hausaufgaben, Üben und Computer. Mir dämmert, dass er sich zur Abwechslung auch um die Schule Sorgen macht. Neben all den täglichen Problemen: bescheuerte Frisur, die richtige Freundin, Größe der Bizeps, Farbe der Turnschuhe. Und dann gibt es noch das andere bange Thema: "Was soll ich denn bloß mal werden, Mum?"

Aus der einst freudigen Gewissheit kindlicher Berufsträume ist eine dunkle, mulmige, schwere Frage geworden.


Das Unwetter zieht ab und gibt den Horizont wieder frei, an dem eine Nachhilfelehrerin auftaucht. Plötzlich wird Lernen "léger". 

März 2013

Als ich eine Landebahn zum Vogelhaus baue, ist es wieder soweit: Mein Sohn betrachtet den Deckel des Schuhkartons, in dessen Rand ich Burgzinnen schneide. Er schüttelt seinen frisierten Kopf und sagt: „Mum, du bist echt SO EIN KIND!“ Ich überhöre den leicht abfälligen Ton und gehe im Geist die Liste all der Dinge durch, die ich adaptiert habe.

Lauter Kindereien. Verspieltes. Leichtes. Wunderliches.

„Sohn“, denke ich, „du bist SO EIN GEWINN“!

April 2013

Terme und Gleichungen sind Themen, mit denen ich mich auskenne. Dunkler Rand über dem kindlichen Mund gleich eine Wasserscheu. Die Fingernägel mit den schwarzen Rändern gleich bemerkenswerter Kontrast zum gebügelten weißen Hemd. Wie auch das sorgfältig gekämmte Haar zu den verstaubten Turnschuhen. Das Opus magnum stakst durch die Küche und verkündet: "Mum, ich brauche einen Rasierapparat."

Und im Gegenlicht vor dem besonnten Fenster sehe ich meine Ungleichung: Der vermeintliche Schmutzrand auf der Oberlippe meines Sohnes ist ein Bartflaum. Nicht abwaschbar.

Genau hinsehen, was die Flaggen anzeigen: vor Freude NICHT lachen, KEINE Lupe holen, NICHT über die zarten Härchen streichen.

 

Mai 2013

Es gibt die guten und die sehr guten Tage.

Dann kommt jener üble Tag, an dem ich ganz still am Tisch sitze und meine Tränen die Küche fluten. Nerv im Rücken klemmt verquer, Waschmaschine verraucht mit einem Knall, Finanzamt schickt quasi ruinöse Rechnung, Omas bester Freund hat 46 Lymphknoten am OP-Tisch hergegeben.

Neu einnorden in der Kummerküche. Mein Sohn kommt dazu, widersteht seinem Fluchtimpuls. Schlingt sich von hinten um meinen Hals.

„flugs - oder nicht flugs - jedenfalls - ganz leise“ raunt Jandl in meinem Kopf. Dieser Moment dauert. Dauert. Und das erste Mal fühle ich mich von meinem Sohn vollen Ernstes getröstet. Im Mutterschiff schnieft es. Mehr Frieden geht im Moment nicht.

 

 

22 Euro später: Über das Oberdeck stolziert ein junger Mann, dessen Hände immer wieder durch die neuen Haare fahren. Ich fremdle ein wenig. Und plötzlich sehe ich: Jetzt passen Auftritt und Frisur endlich zusammen.

Die Friseurin hat eine Strähne für mich aufgehoben.

Juni 2013

Im Mutterschiff wird aufgeräumt. Über Bord geht die törichte Annahme, alle Noten des Sohnes zu kennen, die in den letzten Wochen unter seine Klausuren gesetzt wurden. Irritiert sichte ich an einem Samstag das Depot der Heimlichkeiten. Zuletzt fällt mir eine aktuelle Klassenarbeit in die Hände, deren Ergebnis ich erfolglos beim Sohn erfragt habe. Unter der Arbeit steht Note5. Wie schade, denke ich, bin ohne Groll. Aber dann sehe ich meine Unterschrift. An einer Stelle leicht ausgebessert. Schön gemalt, mit Sorgfalt. Nur nicht von meiner Hand. Jetzt heult die Schiffssirene in voller Lautstärke. Es schmerzt. Ich habe 27 Stunden Zeit, am Sonntag kommt der Sohn wieder. Ich schrubbe die Kommandobrücke, bis der Schaum überquillt und die Sirene verstopft. Dann telefoniere ich. Und höre voller Überraschung von meinen Freunden den Satz: Mmmhh, hab ich früher auch mal gemacht.

Du? Nee!

Doch!

Plötzlich öffnet sich eine Welt voller Nöte und Motive, von denen ich nichts wusste. Ich erfahre aus schulischen Biografien Details, die in fröhlichen Runden nie erzählt werden. Versagen, Angst, Umwege, Brüche. Ich bin berührt von den Seiten, die meine Freunde in ihrem geheimen Fotoalbum für mich aufblättern.

Wie geht es meinem Sohn? Was muss ich ihm sagen? Schwere See.

Nach 27 Stunden sitzen wir uns gegenüber, zwischen uns liegt das Blatt mit der Klassenarbeit. Ich tippe mit dem Finger auf die gefälschte Unterschrift und spreche über richtige und falsche Entscheidungen, über Vertrauen. Keine Minute später ist mein Sohn in Tränen aufgelöst. Er nennt mir einen Grund. Er entschuldigt sich. Nie wieder, Mum! Wir reden weiter; über enttäuschte Muttergesichter und über seinen Ärger, trotz Vorbereitung manchmal zu versagen. Und über das Lernen, mit frustrierenden Situationen umgehen zu können. Über Konsequenzen, die Betrug haben kann. Da bricht der Kummer noch einmal aus ihm heraus. Wir nehmen uns in die Arme. Wir vereinbaren. Ich lichte den Anker und wir fahren weiter.

Juli 2013

Binnenseesommer, mein Sohn und sein Freund aalen sich glänzend im Schlauchboot. Hängen später im Schlepptau unseres tuckernden Motorbootes. Sie turnen, sie waghalsen. Nicht nur 38 Grad steigen ihnen zu Kopf. Mein Sohn klettert aus dem Schlauchboot, hängt sich an die dünne Halteleine. Juchzt im Strom fahrenden Wassers. Lässt plötzlich das verlängerte Mutterschiff los und wird innerhalb von Sekunden zum kleinen Punkt inmitten der Fahrrinne. Sein lieber Freund springt flugs aus dem Boot; Lust am gemeinsamen Drama. Wir fahren ein „Männer-über-Bord-Manöver“; Mutters Magen ein Klumpen Angst. Gelassen dagegen schwimmen die Jungs, bis wir sie Backbord aufnehmen. „War doch safe,“ ist Sohnes Kommentar, während in meinem Kopf  “Schiffsschraube, Wadenkrampf und zehn weitere Katastrophen“  ihre hässlichen Bilder finden. Ihr neuerlicher Spaß im Schlauchboot nimmt ein jähes Ende, als mein Sohn schreit: „Mum, da ist ein Loch in unserem Schlauchboot!“ Und aus der lässigen Abkürzung OMG wird ein leicht panisches „Ohmeingottwirsinken!“; sie verlieren buchstäblich in Sekunden den Boden unter den jungen Füßen. Nach dem Aufstoppen des Eisenbootes klettern sie schneller als behände über die Leiter ins Trockene, lachen. Wir bedauern gemeinsam den Schlauch, der nun kein Boot mehr ist. Noch immer 37 Grad, leichter Wind kommt auf.

August 2013

 "Das schmerzt ganz sicher," sagt der milde Arzt zu meinem Sohn, "die Knochen wachsen gerade schneller als deine Sehnen".

Man kann es quasi hören, wie es dehnt, nach oben und seitwärts sich streckt.

Sehnen und sehnen. Das Kind. Kein Kind mehr. Mehr.

Dazu die Stimme, die neue Oktaven nehmen will und zurück geworfen wird in die Unstimmigkeit. Die Musiklehrerin bittet meinen Sohn mitten in einem Lied um Abbruch; einsichtige Gnade für das brüchige Terrain. Der ganze Orchestersohn klingt schief.

"Mum? Rührei! Bananenmilch!" Dazu rudern die Arme in Schlagzeugermanier. Wir sitzen mitten im Konzert.

September 2013

Ein neues Sofa in Sohnes Zimmer ist eigentlich keine große Sache. Dachte ich. Aber plötzlich stellt sich der ganze Raum quer; Schreibtisch soll DA HIN, Gemälde SOLL SO, Regale erscheinen zu winzig für das ganze neue Leben. Hin, her. So, so nicht. Rein, raus. Flugs füllen sich Müllsäcke, Flohmarktkisten. Wir packen Taschen mit Geschenken für kleine Freunde, "die ja noch Kinder sind". Der Abschied ist kurz. Sehr kurz.

 

November 2013

Die Konsole im Bad wird geräumt und macht einem Rasierapparat nebst Schaum & Zeugs verwundert Platz. Die erste Rasur wird gefeiert; zu dritt stehen wir vor dem Spiegel und lachen die ganze Skala rauf&runter: schüchtern, übermütig, ein wenig beklommen, glücklich. Ein wunderbarer Moment. Und: "Mum - keine Fotos!"

In den nächsten Wochen kristallisiert sich eine neue Lieblingsfrage heraus: "Was gibt es zu essen?" Der Hunger ist groß. Verdammt groß! Und damit das Ganze nicht zu einer einseitigen Versorgungsleistung verkommt, stehen wir gemeinsam am Herd. Der Sohn entdeckt Gewürze, Mühen beim Schälen, Aufwand & Genuss. "Voll lecker"!, klingt der neue Stolz.

 

Dezember 2013

Die Bescherung am Weihnachtsabend ist die helle Freude. Mein Sohn ist wieder Kind zwischen zerknülltem Weihnachtspapier, Familie und buntem Teller. Doch nach drei Stunden Spielerei geht sein so ersehntes Geschenk kaputt; unwiderruflich. Ablandiger Wind treibt das Mutterschiff auf die offene See. Der Sohn jedoch schafft es, im sicheren Hafen seiner Selbstbeherrschung zu ankern. Das Untröstliche der Kinderjahre ist endgültig vorbei. Stiller Glanz am neuen Ufer.

Noch eine Woche, dann wird er 14.

Februar 2014

 

 

Mein Sohn und ich stehen Rücken an Rücken; den Weltatlas auf unseren Köpfen. Er reicht von Scheitel zu Scheitel, wir lachen voller Übermut: "Nur die Erde kann noch unsere wahre Größe bemessen!" Darauf haben wir beide gewartet: das Gefälle neigt sich zu meinen Ungunsten. Ein wirklich großer Tag.

September 2014

Laune hin, Laune her. Der Hunger kommt entweder als Riese oder gar nicht. Alles scheint aus den Fugen zu geraten zu sein.

Lange Nächte, langes Gesicht in viel zu frühen Morgenstunden. Mein Sohn dreht an der Uhr, bis Raum und Zeit sich verschieben. Ein wenig blass sein Schatten, an manchen Tagen durchsichtig.

Haferflocken können nur noch sporadisch helfen.

 

Oktober 2014
Das Zimmer gleicht einem Wasserflaschen-Klamotten-Schulzeug-Abwurfplatz, auf schmalem Trampelpfad gerät man ins Auge des Hurrican. Dort ist es still, gelassen, behaglich gar. Wir schließen die Augen, wir ignorieren. Wenn wir sie wieder öffnen, behalten wir einfach den Tunnelblick.

Januar 2015

Am zeitigen Morgen des 1. Januar lege ich Gummibärchen aneinander, bis die Zahl 15 auf dem Geburtstagstisch erkennbar ist. Daneben Geschenke, Kuchen, Kerzen; eine Girlande spannt sich wie ein roter Faden darüber. Zum ersten Mal kommt der Gebutstags-Sohn erst am Nachmittag mit leicht geröteten Augen heim. Grinst ein wenig verschmitzt als er sieht, dass alles so arrangiert ist wie in jedem Jahr - eine verlässliche Anordnung. Happy birthday, übernächtigter Held!

 

Kurzfragen im Alltag

Jetzt gleich?

Ich wieder?

Geht's noch?

Sicher?

Muss ich?


Kurzantworten im Alltag

OFT  Voll ranzig. Warte kurz. Vielleicht. Ich hasse es. Komme ja gleich.

SELTEN Erledige ich. Schmeckt. Glaub' ich dir. Komme sofort.

NIE Bin schon da.